„Niemand schuldet niemandem etwas“ – Ein Satz, der Beziehungen zerstört
- Beatrice
- vor 1 Tag
- 3 Min. Lesezeit

Wir hören ihn immer öfter: „Niemand schuldet niemandem etwas.“ Ein scheinbar befreiender Satz, modern, cool, unabhängig – und dabei so zerstörerisch. Denn was als Ausdruck von Freiheit gilt, ist in Wahrheit ein Schlag gegen das Fundament menschlicher Beziehungen: Verantwortung, Mitgefühl, Bindung.
Der Mensch ist kein Inselwesen
Der Mensch ist ein soziales Wesen. In dem Moment, in dem wir in Beziehung treten – sei es als Freund, Partner, Kollege oder Elternteil –, übernehmen wir Verantwortung. Wir geben Hoffnung, sprechen Versprechen aus, teilen Nähe. Ob bewusst oder nicht: Wir binden uns – durch Worte, Gesten, Taten.
Sich mit einem Menschen zu verbinden, bedeutet nicht nur, ihn an sich heranzulassen, sondern auch: Ich bin da. Ich sehe dich. Ich trage mit. Genau deshalb ist der Gedanke so gefährlich, man sei niemandem etwas schuldig. Wer das glaubt, löst sich von jeder Form von Verbundenheit – mit gravierenden Folgen für alle Beteiligten.
Verantwortung beginnt mit Nähe
Stell dir vor, du gehst eine Seilschaft mit jemandem ein. Ihr klettert gemeinsam, hängt buchstäblich aneinander. Inmitten der Steilwand rufst du plötzlich: „Ich hab genug – ich koppel mich ab. Ich bin dir nichts schuldig.“
Absurd? Unverantwortlich? Genau das ist es. In Beziehungen sind wir nie völlig „frei“ im Sinne von losgelöst. Wir beeinflussen uns gegenseitig. Wir tragen Mitverantwortung. Nicht weil jemand uns etwas aufdrängt – sondern weil wir durch unsere Nähe, unsere Worte, unsere Anwesenheit Teil der Geschichte des anderen geworden sind.
Wir schulden denen etwas, die wir ins Herz gelassen haben
Wir schulden unseren Kindern etwas – denn sie haben sich das Leben nicht ausgesucht. Wir schulden unseren Eltern etwas – nicht, weil wir geboren wurden, sondern weil wir ihr Dasein mittragen. Wir schulden unseren Freunden, weil wir sie unsere Freunde genannt haben. Und wir schulden denen, denen wir gesagt haben „Ich liebe dich“ – oder auch denen, denen wir es nicht gesagt, aber es durch Nähe und Zuwendung gezeigt haben.
Keine Beziehung ist „frei“ im luftleeren Raum
Der Begriff der „freien Beziehung“ klingt modern – doch oft ist er nichts weiter als die Weigerung, Verantwortung zu übernehmen. Echte Beziehungen verlangen Mut: zur Nähe, zur Verletzlichkeit, zum Aushalten. Wer sich einlässt, trägt. Wer sich entzieht, verweigert nicht nur dem anderen etwas – sondern auch sich selbst das Potenzial tiefer Verbundenheit.
Echte Nähe ist unbequem – aber sie trägt
Wenn du meine Freundin bist und mir deine Not offenbarst, dann bin ich mitverantwortlich. Vielleicht nicht für dein Schicksal, aber für meine Reaktion. Wenn ich dich ignoriere, abblocke, sage „Das ist nicht mein Problem“, dann bin ich nicht frei – ich bin feige.
Wenn dein Partner weint, heißt das nicht, dass er oder sie schwach ist. Vielleicht hast du verletzt. Vielleicht hast du nicht aufgepasst. Vielleicht trägst du einen Teil davon – und genau darin liegt die Würde einer Beziehung: im Mittragen, nicht im Ausweichen.
Der Preis des Individualismus
Der moderne Individualismus verspricht Autonomie – und liefert oft Isolation. Anstatt echte Nähe zu suchen, flüchten wir in Therapien, in virtuelle Räume, in unverbindliche Kontakte. Sex ersetzt Liebe. Gespräche werden ersetzt durch Likes. Nähe durch Schnelligkeit. Tiefe durch Effizienz.
Doch echte Verbindung braucht Mut. Sie braucht Zeit. Und sie braucht Menschen, die sich nicht vor dem Risiko verletzlicher Begegnung fürchten.
Wir sind verantwortlich für die, die wir ins Herz geschlossen haben
Denn jede Beziehung – ob Freundschaft, Partnerschaft, Elternschaft – ist ein leiser, aber klarer Schwur: Ich bin da. Ich sehe dich. Ich trage mit.
Und genau deshalb stimmt dieser Satz nicht: „Niemand schuldet niemandem etwas.“
Im Gegenteil: Wir sind einander etwas schuldig – Achtung, Fürsorge, Menschlichkeit.
Eure Beatrice vom LichtBaum Verlag
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